KZ Auschwitz, Einfahrt

Irgendwer muss Hitler gewählt haben
Irgendwer muss Hoffnung in die
   Braunhemden gesetzt haben
Irgendwer muss stolz gewesen sein
– „Heil, mein Führer!“
Irgendwer muss freudig den Arm gen
   Himmel gerissen haben

Irgendwer muss begonnen haben,
   Juden verbal zu attackieren
Irgendwer muss es gewesen sein, der begonnen hat, jüdische Geschäfte zu boykottieren
Irgendwer muss es gewesen sein, der die Pamphlete aufgeklebt hat
„Dies hier ist ein Jude, Deutscher meide diese Bude!“
Irgendwer muss die Schilder aufgestellt haben, auf denen zu lesen stand, „Juden
   hier unerwünscht“

Irgendwer muss auf den Friedhöfen Grabsteine umgestoßen haben
Irgendwer muss die Fenster der Synagogen eingeschmissen haben
Irgendwer muss auf Scheiben einen Davidstern gepinselt haben
„Achtung, Jude!“
Irgendwer muss Juden gezwungen haben, ihre Torarollen aus zerbrochenen Schränken
   zu holen und auf Lastwagen zu packen

Irgendwer muss dem Arzt Weintraub verboten haben, weiter Kinder zu versorgen
Irgendwer muss die kleine Sara mit den schönen Locken aus der Schule entfernt haben
Irgendwer entfernte auch Julius Baum als Ulmer Museumsdirektor
„Judenpack!“
Irgendwer nahm Samuel Rosenberg seine Villa weg, nahm ihn in Schutzhaft, steckte ihn
   danach zu seiner Familie ins „Judenhaus“

Irgendwer muss den Lastwagen gesteuert haben, der vor dem Haus zum stehen kam
Irgendwer muss den Gewehrkolben geschwungen haben, um die Verängstigten aus
   dem Haus zu treiben
Irgendwer muss verängstigte, zitternde Menschen, jung wie alt, auf die Ladefläche
   bugsiert haben
„Abzählen! Wird’s bald?!“
Irgendwer muss die Transportpapiere bereitet haben, Stempel darauf

Irgendwer muss die Beladung der Zugwaggons überwacht haben, Geängstigte gestapelt
   als Vieh
„Zusammenrücken! Enger!“
Irgendwer in braun dachte sehnsuchtsvoll an die Verlobte daheim in Ulm, während er auf
   die Ankunft des Zugs am Zielort in Polen wartete
Irgendwer muss die Türe des Waggons aufgerissen haben, mit abschätzigem Blick auf
   beinahe verhungert Geängstigte
Irgendwer muss Befehle gebrüllt haben
Irgendwer muss gestoßen haben
Irgendwer muss seine Pistole gezogen und an einen geängstigten Kopf gehalten haben
„Wird’s bald?! Weiter, Judensau! Nicht stehen bleiben!“

Irgendwer muss eine Auswahl getroffen haben
Irgendwer muss die gewählten Geängstigten als Geisterhafte aus ihren Verschlägen
   geschoben haben
Irgendwer muss die geisterhaft-mechanisch schlurfenden Geängstigten in die Kammern
   geführt haben
„Spielt Beethoven, ihr Kakerlaken! Für eure Leute, spielt!“
Irgendwer muss den Hahn aufgedreht haben
Irgendwer muss Totes in Öfen vernichtet haben
„Melde gehorsam, 150 ins Gas geschickt!“
Irgendwer muss die Kinder gezwungen haben, mit der Asche der toten Geängstigten die
   verschneiten Wege zu bestreuen, auf das keiner stürze in Birkenau
Irgendwer hat leise gewimmert, ganz leise, irgendwo, irgendwer

Irgendwer muss so getan haben, als sei nichts gewesen
– „Wir haben doch nicht gewusst!“
Irgendwer macht immer noch damit weiter, immer wieder
„Jetzt muss dann aber auch mal Schluss sein mit den Zahlungen an Israel!“
Irgendwer muss die Gnade der späten Geburt in Anspruch nehmen
„Jetzt ist es auch mal gut mit der Schuld!“
Irgendwer muss es sein, der wieder Hakenkreuze auf jüdische Grabsteine schmiert

Aber irgendwer von uns muss aufstehen
Aber irgendwer von uns darf nicht aufhören zu erinnern
Aber irgendwer von uns darf nicht zulassen, dass Tote vergessen werden
Aber irgendwer von uns muss die Namen der Ermordeten erinnern:

יִתְגַּדַּל וְיִתְקַדַּשׁ שְׁמֵהּ רַבָּא.
(yit̠gaddal wǝyit̠qaddaš šǝmēh rabbā’)
– Beate Baertig – Eda Barth – Flora Bayersdorfer

בְּעָלְמָא דִּי בְרָא כִרְעוּתֵהּ
(bǝ‛ālmā’ dî b̠ǝrā’ k̠ir‛ût̠ēh)
– Ruth Chose – Else Doelzer – Lina Einstein

וְיַמְלִיךְ מַלְכוּתֵהּ
(wǝyamlîk̠ malk̠ût̠ēh)
– Eugen Goldfisch – Alice Gump – Samuel Hallheimer

בְּחַיֵּיכוֹן וּבְיוֹמֵיכוֹן וּבְחַיֵּי דְכָל בֵּית יִשְׂרָאֵל,
(bǝḥayyēyk̠ôn ûb̠yômēyk̠ôn ûb̠ḥayyēy d̠ǝk̠ol bēyt̠ yiśrā’ēl)
– Minna Hirsch – Beate Hommel – Sophie Kahn

בַּעֲגָלָא וּבִזְמַן קָרִיב וְאִמְרוּ אָמֵן.
(ba‛ăḡālā’ ûb̠izman qārib̠ wǝ’imrû ’āmēn)
– Jakob Karnowski – Mathilde Kaufmann – Ottilie Klappholz

יְהֵא שְׁמֵהּ רַבָּא מְבָרַךְ לְעָלַם וּלְעָלְמֵי עָלְמַיָּא יִתְבָּרַךְ
(yǝhē’ šǝmēh rabbā’ mǝb̠ārak̠ lǝ‛ālam ûlǝ‛ālǝmēy ‛ālǝmayā’ yit̠bārak̠)
– Isak Krippel – Iska Lamm – Sofie Levy

וְיִשְׁתַּבַּח וְיִתְפָּאֵר וְיִתְרוֹמֵם
(wǝyištabaḥ wǝyit̠pa’ēr wǝyit̠rômēm)
– Siegmund Liebermann – Margarete Löwy – Rosa Mann

וְיִתְנַשֵּׂא וְיִתְהַדָּר וְיִתְעַלֶּה וְיִתְהַלָּל
(wǝyit̠naśśē’ wǝyit̠haddār wǝyit̠‛alleh wǝyit̠hallāl)
– Frieda Mayer – Hugo Moos – Sara Nathan

שְׁמֵהּ דְּקֻדְשָׁא בְּרִיךְ הוּא
(šǝmeh dǝqudšā’ bǝrîk̠ hûh)
– Max Neuburger – Paula Reinauer – Hedwig Schulmann

לְעֵלָּא מִן כָּל בִּרְכָתָא שִׁירָתָא תֻּשְׁבְּחָתָא
(lǝ‛ēllā’ min kol birk̠āt̠ā’ šîrāt̠̠ā’ tušbǝḥat̠ā’)
– Yitzhak Kripel – Trude Robert – Josef Stern

וְנֶחָמָתָא דַּאֲמִירָן בְּעָלְמָא וְאִמְרוּ אָמֵן.
(wǝneḥāmāt̠ā’ da’ămîrān bǝ‛ālmā’ wǝ’imrû ’āmēn)

Aber irgendwer von uns muss anfangen, traurig zu sein.

 

(Heute vor 69 Jahren wurden etwa 7.500 verbliebene Gefangene des KZ Auschwitz-Birkenau von der Roten Armee befreit. Den Text, gedacht für einen Vortrag auf der Bühne, habe ich zum Gedenken an die unzähligen jüdischen Opfer der nationalsozialistischen Verbrechen verfasst. Es ist mein persönliches Kaddisch für die Ermordeten. Die Namen, die im Wechsel mit jeweils einer Zeile des Kaddisch gesprochen werden sollen, sind die Namen ermordeter Ulmer Juden, festgehalten in der zentralen Datenbank von Yad Vashem. Wir Deutschen werden erst dann wieder stolz auf unser Land sein können, wenn auch noch der letzte Einwohner dieses Landes Trauer empfunden haben wird für all die Toten.)

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